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Rubrik: Tagesberichte
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Publiziert: 26.08.2004 06:00

Philosophie-Atlas von Elmar Holenstein
Gedankengänge

Die Geschichte der Philosophie nicht nur zeitlich, sondern auch im geographischen Raum ins Bewusstsein zu bringen – Das ist das Ziel des Pilotprojektes „Philosophie-Atlas“, der von Elmar Holenstein, emeritierter ETH-Philosophieprofessor, verfasst wurde. Die Vernissage des ungewöhnlichen Philosophiebuches fand im Juli am Collegium Helveticum statt.

Von Christoph Meier

Gedankengänge gehören zum Geschäft der Philosophie. Was aber, wenn ein Autor diese Aufgabe wörtlich nimmt und eine Gesamtschau der Philosophie anpeilt, indem er die wichtigen Orte des Denkens auf geographischen Karten einzeichnet und Zusammenhänge zwischen Geistesströmungen durch Kolorierung und Pfeile aufzeigt? Ist das immer noch Philosophie? Wer eine Antwort auf diese Frage finden will, dem sei das neue Buch „Philosophie-Atlas. Orte und Wege des Denkens“(1) des emeritierten ETH-Philosophie-Professors Elmar Holenstein empfohlen. Denn in diesem unternimmt der Autor den Versuch, die Geistesgeschichte zu kartieren.

Umfeld hilft dem Verständnis

„Die europäische Philosophie ist ohne das aussereuropäische Umfeld nicht erklärbar. Das ist der Ausgangspunkt für mein Buch“. Diese Sätze, die wie ein Credo klingen, äusserte Elmar Holenstein an der Vernissage zu seinem neuen Buch anfangs Juni am Collegium Helveticum. Der Philosoph illustrierte seine Überzeugung auch gleich mit einer Karte aus seinem neuen Werk. Auf dieser führen die Ausbreitungslinien der westlichen Philosophie im Mittelalter bis nach Timbuktu oder nach Bukhara in Zentralasien. Im Buch selber akzentuiert Holenstein seine Motivation noch: „Es ist fahrlässig, sich nicht dafür zu interessieren, was andere, mit denen wir in einer Schicksalsgemeinschaft verbunden sind, denken oder von ihrer Tradition her zu denken geneigt sind.“

Berlin und Baghdad als wichtige Zentren im Einzugs- und Ausbreitungsgebiet der "europäischen" Philosophie. (Ausschnitt aus einer Karte des Philosophie-Atlas') gross

Teilweise missionarisch?

Obwohl sie diese Aussage nicht explizit unterstützten, pflichteten ihr die beiden schweizerischen Philosophen, Hans Saner und Georg Kohler, durch ihr Lob für die ungewöhnliche Publikation bei. An der Veranstaltung im Collegium freute sich Saner, dass Holensteins Blick nicht akademisch verengt sei und dass versucht wurde, mündliche Traditionen einzubeziehen. Die grosse sprachlich Sorgfalt und die Liebe zum Detail – die Bezeichnungen im Atlas folgen strikt Ausdrücken, welche die Angehörigen der jeweiligen Kulturen verwenden – waren Punkte, die Georg Kohler an der Neuerscheinung beeindruckten. Kritisch merkten aber die beiden Berufskollegen an, dass Holensteins bemerkenswertes Bemühen, alle Weltgegenden gleichermassen einzubeziehen, teilweise missionarische Züge aufweise, oder das der Begriff des Umfeldes noch weiter geklärt werde sollte.

Missionarisch möchte er nicht sein, meinte dazu der ETH-Professor – und wenn, dann höchstens im deutschsprachigen Raum. Seine Arbeit habe ihm selbst einfach aufgezeigt, wie eurozentrisch er selbst sei. Bemerkenswert auch die Feststellung des global an Philosophie interessierten Autors, dass die Unterschiede zwischen den Kulturen nicht grösser seien als innerhalb derselben. Die Philosophie anhand von Karten darzustellen, bedürfe auch keines speziellen Mutes, sondern der Neugierde, befand Holenstein. Doch wieso überhaupt Karten und nicht wie fast immer in der Philosophie nur ein Text? Eine Antwort findet man im Atlas, indem der Philosoph schreibt: „Zum Informationspotential geographischer Karten gehört es, dass sie den Gegenstand, für den sie erstellt werden, in ein Umfeld eingebettet wiedergeben.“


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Ein ungewöhnliches Buch für sein Gebiet: der neue Philosophie-Atlas des emeritierten ETH-Professors Elmar Holenstein. gross

Im Zentrum die Karten

Das graphisch überzeugende Werk ist aufgeteilt in Leitgedanken, die Karten mit jeweils einem Begleittext, ein Personen- und ein geographisches Register. Die Karten wiederum in vier Abschnitte: Im ersten werden Modellvorstellungen präsentiert, wie sie früher und heute über die Beziehungen von Kulturen entwickelt wurden. Den zweiten Teil bilden Karten über die Kontextbedingungen für Philosophie, beispielsweise eine Darstellung der Kulturen im vorkolumbianischen Amerika. Danach folgt der Hauptteil des Atlasses mit den grossen historiographisch dokumentierten Netzwerken des philosophischen Denkens. Hier kann man sich zum Beispiel über die Philosophie in Zhongguos „Mittelland“ zur Zeit der „100 Schulen“ im sechsten bis dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung informieren. Zum Schluss gibt es noch Karten zur Gegenwart und Zukunft.

Nun werden aber bei der „Zukunftskarte“ nicht die Karten gelegt, sondern es ist der Versuch einer Darstellung, bei der sämtliche grösseren Erdteile einen sie kulturgeschichtlich auszeichnenden Platz erhalten, ohne dass einer in eine diskriminierende Randposition gerät. Dabei kommt der „geophilosophische“ Mittelpunkt im Pazifik nordöstlich von Neuguinea zu liegen. Bei der Gegenwart steht Nordamerika im Zentrum, wobei der Begleittext festhält, dass kulturelle Monopole so bedenklich wie wirtschaftliche sind. Bei den Kontextkarten fällt auf, dass sie zurückgehen bis zu den ersten Hominiden-Funden in Afrika.

Kein Anspruch auf Vollständigkeit

So reichhaltig die Karten sind, erschliesst sich ihr Gehalt für die meisten wohl erst mit dem Nachschlagen im Personen- und geographischen Register. Anhand dieser können die wichtigen Denker verortet werden. Bei den Geistesgrössen beschränkt sich Holenstein nicht auf Personen, die gemeinhin als Philosophen bezeichnet werden, sondern nimmt auch weitere einflussreiche Denker hinzu, sei es Darwin, Freud, Einstein oder sogar fingierte Figuren wie Diotima. Der ETH-Professor ist sich bei seinem von ihm selbst als „Pilotprojekt“ bezeichneten Buch durchaus bewusst, dass es keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Ob das im Text erwähnte Kriterium „Vermittlerrolle“ genügt, um zu erklären, warum Thomas S. Kuhn Eingang in den neuen „Philosophie-Weltatlas“ findet aber Imre Lakatos nicht, muss jeder Leser, oder vielleicht besser Nutzer, für sich selber beantworten.

Optisch wie sprachlich überzeugt das Werk durch seine Klarheit. Ein Satz wie „Es führt kein mainstream mehr schlaufenförmig… durch die Nachbarregionen im Osten und Süden des Mittelmeers, nur noch gelegentlich ein Rinnsal wie die Kabbala“ gefällt durch die geschlossene Metaphorik. Bei so viel Sorgfalt stört auch ein kleiner Fehler nicht: die Einheit des Menschengeschlechts wird nicht mit mikro- sondern mit molekularbiologischen Daten gestützt. Auf alle Fälle regt der Atlas mit seinen Karten zu neuen Gedankengängen an, und das in ihm zitierte Diktum Kants erhält eine neue Dimension: „Es ist nichts, was den geschulten Verstand mehr kultiviert und bildet, als Geographie.“


Fussnoten:
(1) Philosophie-Atlas von Elmar Holenstein, Amman Verlag 2004, ISBN: 3250104795, Gebundene Ausgabe, CHF 79.90



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