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Rubrik: Tagesberichte
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Publiziert: 15.04.2004 06:00

ETH-Dissertation: Über die Tiefenpsychologie des Bodenwissenschafters
Umweltträume

Innere Bilder aus der unbewussten Psyche beeinflussen das Denken und Handeln des Bodenwissenschafters. Auf diese einfache Formel können die Erkenntnisse von Nikola Patzel gebracht werden, die er im Rahmen seiner Dissertation an der ETH Zürich beschrieb. Nun liegt das Werk in Buchform vor: „Bodenwissenschaften und das Unbewusste. Ein Beitrag zur Tiefenpsychologie der Naturwissenschaften“ heisst es und ist im Münchener ökom-Verlag erschienen, dem Herausgeber des Magazins „Gaia“. Der Umweltnaturwissenschafter Patzel befasst sich seit mehreren Jahren mit der Psychologie Carl Gustav Jungs.

Von Michael Breu

Alle Menschen träumen, auch alle höher entwickelten Tiere. Der Traum ist ein Phantasieerlebnis vorwiegend optischer und akustischer Art während des Schlafs. So vieldeutig die Definition im Nachschlagewerk ist, so knapp wird sie im Fachlexikon. Dort ist zu erfahren, dass pro Nacht meist drei bis sechs Traumphasen von 5 bis 40 Minuten erfolgen, in der Augenbewegung, leichte Muskelspannungen, unregelmässiges Atmen und sexuelle Erregung auftreten und die Hälfte aller Träume Auszüge aus dem Vortag, so genannte Tagesreste, enthalten. Die menschliche Kulturgeschichte zeigt verschiedenste Einstellungen gegenüber dem Traum: Hochgeehrt in archaischen Kulturen, Gegenstand gelehrter Abhandlungen in der Antike und lexikonähnlicher „Volkstraumbücher“ im europäischen Mittelalter; heute ist er Gegenstand verschiedener Disziplinen von der Neurologie bis zur Tiefenpsychologie – und doch immer noch ein Rätsel.

Ausdruck des Unbewussten

Der Träumerei angenommen haben sich Sigmund Freud und dessen zeitweiliger Schüler Carl Gustav Jung. Die beiden Tiefenpsychologen fassten den Traum als sinnvolles psychisches Gebilde auf, als Ausdruck des Unbewussten, das zu deuten sich lohne. Während Freud den Traum als Produkt des Triebwunsches betrachtete und entsprechend interpretierte, beschrieb ihn Jung als „ein Stück unwillkürlicher psychischer Tätigkeit (…), ein bestimmtes Funktionieren, das nicht von Wollen und Wünschen, von Absicht oder Zielsetzungen des menschlichen Ichs abhängig ist“, sondern dieses mit bislang unbewussten Inhalten konfrontiere und sich dabei einer Symbolsprache bediene, deren Grundstrukturen archetypisch seien.

Der Name Carl Gustav Jung (1875-1961) ist eng mit der ETH Zürich verknüpft: Von 1933 bis 1941 war Jung ETH-Professor für Psychologie, erhielt 1955 einen Ehrendoktortitel und war von 1932 bis 1958 in ständigem Briefwechsel mit dem ETH-Physikprofessor Wolfgang Pauli, der während vier Jahren auch sein Patient war. Heute beherbergt die ETH-Bibliothek das weltweit grösste Jung-Archiv mit rund 1000 Manuskripten und über 30'000 Briefen.

Entdecken während dem Wegdösen

Mit Jungs Psychologie befasst sich auch eine Dissertation, die kürzlich in Buchform im Münchener ökom-Verlag erschienen ist (1). „Bodenwissenschaften und das Unbewusste“ heisst der Titel und ist „ein Beitrag zur Tiefenpsychologie der Naturwissenschaften“. „Manch ein suchender Wissenschafter hatte eine überraschende Begegnung mit seinem Unbewussten: Es fiel ihm ein. Es war die Lösung eines grossen Problems“, schreibt der Umweltnaturwissenschafter Nikola Patzel und führt eine Reihe von Forschern an, die beim Wegdösen am Schreibtisch oder im Traum den entscheidenden Schritt zu ihrer Entdeckung leisteten. Carl Friedrich Gauss zum Beispiel fand so das Reziprozitätsgesetz der quadratischen Reste, Henri Poincaré die automorphen Funktionen, Otto Loewi das Acetylcholin als Neurotransmitter, Dimitrij Mendelejew das Periodensystem der Elemente und August Kekulé die Strukturformel von Benzol. Für Patzel zeigen solche Ereignisse, „dass bei schöpferischen Wissenschaftern Impulse aus dem Unbewussten eine grosse Rolle bei ihrer Erkenntnisfindung spielen“.

„Der Chemische Ackersmann“ (1855): Landwirtschaftliche Idylle, ein Herr sitzt bei Knochenmehl- und Guanosäcken. Im Zentrum des Untergrundes stehen Leuchte, Waage und Apothekerschrank, daneben sind Labor-Attribute, Eule, Meerkatze und Arbeiter in Zwerggestalt. Von dort aus wird noch tiefer gebohrt und Menschenknochen werden hervorgeholt. Ganz oben erscheint „Gottes Segen“. gross

Rollen wir zurück. Psychologie beschäftigt den gebürtigen Saarbrücker schon seit vielen Jahren. Schon als junger Erwachsener notiert er seine eigenen Träume in ein „Tagebuch“ auf dem Laptop und macht sich Gedanken, wie sie zu interpretieren sind. Nach einer Grundausbildung am Leibniz Kolleg Tübingen folgt ab 1992 das Studium der Umweltnaturwissenschaften an der ETH Zürich. Im zweiten Semester, 1993, wird er auf eine Lehrveranstaltung mit dem Titel „Archetypische Träume zur Umweltproblematik“ aufmerksam, die regelmässig gegeben wird von Theodor Abt, ETH-Professor für Agrarsoziologie und Mitglied der Leitung des Zürcher „Forschungs- und Ausbildungszentrums für Tiefenpsychologie nach Carl Gustav Jung und Marie-Louise von Franz“.


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Der „innere Boden" beeinflusst den Naturwissenschafter, findet der 33-jährige Konstanzer Nikola Patzel.

„Die Idee, in den Umweltnaturwissenschaften auch Träume zu Umweltproblemen und zur Umweltforschung zu beachten, faszinierte mich“, sagt Nikola Patzel. „Umweltprobleme sind ihrer Herkunft nach nicht wissenschaftliche, sondern lebensweltliche Probleme, von denen allenfalls Teilfragen als 'wissenschaftlich’ oder gar 'naturwissenschaftlich’ aufgefasst und bearbeitet werden können“, schreibt er kurze Zeit später in einem Aufsatz in der Fachzeitschrift „Gaia“ (2). Der Beitrag ist eine Weiterentwicklung seiner Semesterarbeit, in der er die Träume von Studentinnen und Studenten des fünften, siebenten und neunten Semesters der Umweltnaturwissenschaften untersuchte. Sein Schluss: „Träume sind Einfälle des Unbewussten bei der Problembearbeitung. Solche Träume als Tatsachen anerkennen und ihnen bewusst Raum geben, schafft eine Distanz, die für die Bewertung der eigenen Arbeit wichtig werden kann. Gelingt es dann, die Bedeutung der eigenen – gewissermassen persönlich adressierten – Träume zu erkennen und sich zu eigen zu machen, so erlangen die gewonnenen Erkenntnisse eine gewisse Autonomie gegenüber den Wechselfällen des Alltags und können zu Ankerpunkten übergeordneter Orientierung werden.“

Vorsicht vor der Glorifizierung des Traums

Eine ungewohnte Aussage von einem Wissenschafter. Prompt provoziert sie einen scharfen Leserbrief: „Die blosse Tatsache, dass etwas geträumt wurde und aus dem Unbewussten kommt, gibt dem Traum über seine private Bedeutung für den Träumer hinaus noch keine öffentliche Relevanz“, kritisiert Wolfgang Giegerich, ehemaliger Literaturprofessor der Rutgers University in New Brunswick, N.J., Jung-Analytiker und Buchautor im oberbayerischen Wörthsee (3). Er befürchte „eine Glorifizierung des Traums“. In einer Replik in derselben „Gaia“-Ausgabe weist ETH-Professor Theodor Abt die Befürchtung entschieden zurück: „Die Deutung der Träume ist tatsächlich eine Ermessensfrage und vom Wertesystem des Deutenden abhängig (…) Wenn in den Umweltwissenschaften das gestörte Verhältnis des Menschen zur Natur wieder einem Gleichgewicht zugeführt werden soll, scheint es wenig zweckmässig, wegen Schwierigkeiten der Deutungskunst von Träumen diese Reaktionen der inneren Natur von vornherein auszuklammern“, schreibt er.

Aus dem hohlen Bauch argumentiert Nikola Patzel nicht, will er auch nicht. „Ich habe gemerkt, dass in den Träumen etwas steckt, an dem ich auch aus wissenschaftlichen Gründen nicht vorbeigehen sollte. Und ich wollte mich der Umwelttiefenpsychologie als Forscher nicht unbedarft, sondern mithilfe einer fundierten fachlichen Ausbildung nähern – genauso wie ich zur Umweltnaturwissenschaft ein ETH-Studium absolviert habe“, sagt er. Deshalb fasst er 1996 den Entschluss, am Zürcher „Forschungs- und Ausbildungszentrum für Tiefenpsychologie nach Carl Gustav Jung und Marie-Louise von Franz“ eine Ausbildung zu beginnen, gleichzeitig vertieft er sich an der ETH in Bodenkunde und Stofffluss-Analyse. 1998 schliesslich beendet Patzel das ETH-Studium mit der Auszeichnung summa cum laude. Für das jahrgangsbeste Schlussdiplom erhält er den Willi-Studer-Preis. Seine Diplomarbeit ist dem Thema „Bodenfruchtbarkeit – Phänomen und Begriff“ gewidmet. Auch in dieser Arbeit greift er Träume und das Unbewusste auf. Fünf Jahre später folgt die nun als Buch vorliegende Dissertation: „Bodenwissenschaften und das Unbewusste“.

Aussenwelt und Innenwelt

„Ich bin bei meinen vier Doktorvätern immer auf offene Ohren gestossen“, sagt Patzel rückblickend. Unterstützung fand er vor allem bei Peter Baccini, ETH-Professor für Stoffhaushalt und Entsorgungstechnik, Ulrich Müller-Herold, ETH-Professor für Physikalische Chemie, Hans Sticher, emeritierter ETH-Professor für Bodenchemie, und natürlich von Theodor Abt, der schon in seiner Doktorarbeit eigene Traumelemente aufgenommen und versucht hatte, „Aussenwelt und Innenwelt als die beiden Aspekte einer Wirklichkeit darzustellen und deren wechselseitige Beziehung aufzuzeigen“, wie Abt selbst schreibt.

Umfassende Bodenqualität (1994): „’Soil Quality’ mit Erdkugel“. gross

„Ein Grundproblem bei der wissenschaftlichen Beachtung innerer Bilder ist, dass ihre Dimension scheinbar vollständig von der naturwissenschaftlichen Welt getrennt wurde und damit aus naturwissenschaftlicher Weltsicht entweder zum 'Nichts’ oder zum 'Anderen’ geworden ist“, findet Nikola Patzel. „Es ist eine ähnliche Crux wie die zwischen Naturwissenschaft und Religion, ein Problem, das meist entweder durch Abwertung einer der beiden Seiten oder durch Schubladendenken gelöst wird.“ Dabei seien ihre irreführenden Potentiale zu gefährlich, und ihre orientierenden und erkenntnisfördernden Potentiale zu wertvoll, um ihnen weiterhin den Rücken zu kehren. „Die Bodenwissenschaften“, schreibt Patzel, „erwiesen sich als nicht nur entstanden aus strikt naturwissenschaftlicher Auseinandersetzung mit dem Forschungsobjekt, sondern auch als persönliche Interpretation allgemeinmenschlicher, hier dem Boden verbundener seelischer Bilder.“


Fussnoten:
(1) Homepage von Nikola Patzel (mit einem Link für die Buchbestellung): www.patzel.info/
(2) „Träume angehender Umweltnaturwissenschaftler“, Gaia, 1999, 8(3): 203-209
(3) „Umweltträume?“, Gaia, 2000, 9(1): 5-7



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