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ETH - Eidgenoessische Technische Hochschule Zuerich - Swiss Federal Institute of Technology Zurich
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Publiziert: 21.06.2004 06:00

Das erste Reglement des Polytechnikums und studentische Auflehnung
Zugeschnitten und profiliert

Vor 150 Jahren skizzierte das Polytechnikum zum ersten Mal das Profil des schweizerischen Ingenieurs. Dieser sollte durch sein Studium nicht nur fachliche Qualifikationen erlangen, sondern auch zu einem politisch verantwortlichen Bürger erzogen werden – notfalls mit strengen Disziplinierungsmassnahmen. Trotz einigen studentischen Rebellionen blieb das politische Engagement von ETH-Studierenden eher episodenhaft.

Von Andrea Westermann

Im Frühjahr 1854 hat eine neunköpfige Kommission das erste Reglement des geplanten Polytechnikums ausgearbeitet. Am 21. Juni begründete Joseph Wolfgang von Deschwanden, der zukünftige Direktor des Polytechnikums, dem Bundesrat in einem 60-seitigen Bericht die vorgesehene Zusammenstellung des Lehrstoffes und die gewählten Unterrichtsformen. Bericht wie Reglement fanden uneingeschränkte Zustimmung. Denn diese trugen dem Auftrag des liberalen Bundesstaats Rechnung, mit Hilfe des Polytechnikums und seiner Absolventen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stabil zu halten.

Naturkatastrophen sowie wirtschaftliche und politische Krisen sollten von der jungen Schweiz möglichst ferngehalten werden. Aufgeschreckt hatten die „bekannten sozialistischen und kommunistischen Verirrungen, die leider oft gerade von ehemaligen Schülern der polytechnischen Schule in Paris ausgingen oder unterstützt wurden.“ Der Bundesrat empfand es damals als Schwachstelle, dass die Ecole Polytechnique in Paris darauf verzichtet hatte, die technische Elite der Zivilingenieure auch politisch-kulturell einzuweisen.

Selbstdisziplin und strenge Aufsicht

Im Gegensatz zur „Ecole Polytechnique“ in Paris hielt das Polytechnikum in Zürich die Studenten auch zu umfassender Allgemeinbildung an. Es setzte dabei auf die Geistes- und Staatswissenschaften, um aus den jungen Männern politisch verantwortungsvolle Bürger zu machen. Bürger mit einem „offenen Auge und einer bereitwilligen Hand zur Wahrnehmung und Förderung aller wahren, materiellen und ideellen Interessen der Gesellschaft.“ In einer sechsten Abteilung wurden diese Freifächer – zu denen anfangs übrigens auch die Naturwissenschaften zählten – angefügt. Bei diesen Fächern wurde für einmal auch Studienfreiheit gewährt: Die Schüler seien keine Knaben mehr, „sondern [dürfen] hier wohl einige Freiheit in der Bestimmung ihrer eigenen Thätigkeit geniessen, wenn sie in ihren Berufsstudien den strengen Anordnungen der Schule folgen.“

Die angehenden Ingenieure wurden mit den unterschiedlichsten Massnahmen diszipliniert: Auf der einen Seite wurden sie zur Selbstdisziplin verpflichtet, die sie zur Bewältigung der fachlichen Anforderungen sowie zur Ausbildung von Führungsqualitäten und „soft skills“ brauchten. Auf der anderen Seite waren die Studenten auf ein Lehrpensum festgelegt, mit Prüfungen am Ende eines jeden Studienjahrs. Ausserdem wurden sie von den Professoren und dem Direktorat des Polytechnikums streng beaufsichtigt. Diesen standen – bis hin zur Wegweisung – eine ganze Reihe disziplinarischer Massnahmen zur Verfügung. Die eingeschlagene Laufbahn stutzte die Schüler also zurecht und profilierte sie gleichzeitig.

Erste Auflehnung gegen die Bevormundung

Die Polytechniker fühlten sich in der Folge oft bevormundet. 1864 kam es zwischen Schülern und Schulleitung zu einer ersten grossen Auseinandersetzung. Sie drehte sich unter anderem um das Ehrritual des Duells, das sich die Polytechniker von den Universitätsstudenten abgeschaut hatten und das für sie einen standesgemässen Männlichkeitsausweis darstellte. Dieses Ritual, das nach Gesetzen ablief, die mit dem Reglement der Schule nicht vereinbar waren, wurde schliesslich von Direktor Bolley ausdrücklich und unter Androhung äusserster Konsequenzen verboten.


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Selbstdarstellungen von Studierenden der ersten Generation am Polytechnikum (1856), die sich in der Verbindung „Alpigenia“ organisierten. (Bildarchiv ETH-Bibliothek) gross

Mit dem Umzug ins neue Sempergebäude drohte den Studenten gleichzeitig eine Überwachung, wie sie in den bisherigen provisorischen und über die Stadt zerstreuten Unterrichtsräumen nicht möglich gewesen war. Aus Protest gegen die verschärften disziplinarischen Regeln und die drohende Überwachung trat beinahe die Hälfte aller Schüler aus dem Polytechnikum aus.

Schulleitung gewährt Studienfreiheit

Erst 1908, ein halbes Jahrhundert später, wurde prinzipielle Studienfreiheit gewährt. So schwer es der Schulleitung gefallen war, sich dieses Zugeständnis abzuringen, es zeigte sich schnell, dass die Disziplinierungsstrategien damit erfolgreich modernisiert worden waren: Von da an unterwarfen sich die Studenten freiwillig den Normalstundenplänen.

Jede weitere Flexibilisierung der Normalstudienpläne ging mit grösserem Selbstmanagement der Studierenden einher. Später kamen weitere Angebote der individuellen Abstimmung von Bildung, Ausbildung und geistig-körperlichem Ausgleich entgegen: Zum Beispiel rechnergestützte Lehrangebote, wie das 1975 eingeführte PLANETH System, und übrigens auch die fortlaufend ausgebauten Hochschulsportangebote.

So gesehen scheint es nur konsequent, dass die heutige Hochschulverwaltung ihr Reglement im Zuge des Bologna-Prozesses auf das Kreditpunktesystem umstellt. Denn mehr Flexibilität bedeutet in diesem Zusammenhang nicht mehr Studienfreiheit, sondern eine Ausrichtung an internationalen Arbeitsmärkten, wo das hierzulande Orientierung stiftende Profil des schweizerischen Ingenieurs keine Bedeutung hat. Dagegen gewährleisten Kreditpunkte über die Vergleichbarkeit der Konkurrenten zumindest formale Transparenz. Sie sind, wenn man so will, auf eine effiziente Art 'demokratisch’.

Politisches Engagement blieb episodenhaft

Aus heutiger Sicht scheinen die politischen Qualifikationen, die die ETH-Studierenden nach den Bestimmungen des ersten Reglements erwerben sollten, ziemlich exotisch. Fast ebenso exotisch wie die politische Kampagne der ETH-Studierenden1969, mit der eine geplante Neufassung des ETH-Gesetzes gekippt wurde, da auch dieses keine Formen demokratischer Mitbestimmung aller ETH-Angehörigen in Lehr- und Organisationsfragen vorsah. Auch 1969 beriefen sich die Studierenden auf gesellschaftspolitische Verantwortung – wie schon das Reglement von 1854 und wie die Hochschulen in Zeiten des knappen Globalbudgets. Politisches Engagement blieb aber – entgegen aller Mythenbildung rund um die 1968er Jahre – episodenhaft.




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