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Rubrik: Campus Life Wikipedia: jung und erfolgreich, aber nicht über alle Zweifel erhaben Von grossem Nutzen – trotz allem |
Published: 26.01.2006 06:00 Modified: 26.01.2006 10:01 |
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Er hätte allen Grund, die weltumspannende freie Online-Enzyklopädie Wikipedia als Quelle zweifelhafter Information zu brandmarken. Aber er tut’s nicht: ETH-Informatik-Professor Bertrand Meyer schätzt das nun fünf Jahre jung gewordene Medium wie Millionen andere User – obwohl er kürzlich durch einen üblen Scherzbold in der deutschen Wikipedia-Ausgabe für tot erklärt wurde. Norbert Staub (mailto:norbert.staub@sl.ethz.ch) Gut möglich, dass die Feiertage um den Jahreswechsel dazu beigetragen haben, dass der Eintrag während fünf Tagen unbeachtet blieb: Am 28. Dezember, kurz nach 22 Uhr schrieb ein Unbekannter, ganz offensichtlich ein Student: „Bertrand Meyer verstarb nach jüngsten Informationen am 24.12.2005 in Zürich. Am 23.12. 2005 wurden die Prüfungsergebnisse seines letzten Kurses veröffentlicht, Verbindungen zwischen dieser Veröffentlichung und seinem Tod können jedoch nicht nachgewiesen werden.“ QuicklebendigEs muss nicht darauf hingewiesen werden, dass Professor Meyer sich zum Glück bester Gesundheit erfreut und er Opfer eines makabren Scherzes geworden war. Am 3. Januar wurde dieser von einem Journalisten bei heise.de bemerkt und dann umgehend gelöscht. Die Presse jedenfalls, bis hin zu „Spiegel online“, nahm den Vorfall zum Anlass, die Verlässlichkeit des Internet-Nachschlagewerks in Frage zu stellen.
Ein zweiter Fall lieferte und liefert den Kritikern der freien Autorschaft, die es jedem ermöglicht, Artikel zu ändern, zusätzliche Munition: Wenige Wochen zuvor war in einem englischsprachigen Wikipedia-Artikel zu lesen, dass John Seigenthaler, seines Zeichens ehemaliger Assistent von Robert Kennedy, am Mord an John F. Kennedy beteiligt gewesen sein soll. Auch dieser Eintrag entpuppte sich als üble Falschmeldung – nachdem er während Monaten unentdeckt geblieben war. Erfolgsgarant und AchillesferseSicher, das Erfolgsrezept von Wikipedia ist gleichzeitig dessen Achillesferse: der Umstand, dass niemand seine Expertise unter Beweis stellen muss, bevor er einen Artikel bearbeiten (im schlechteren Fall: verschlimmbessern) darf, ist kritisierbar. Auf der anderen Seite wirkt die mittlerweile gigantische Community von „Wikipedes“ als ein mächtiges Korrektiv, das in der weit überwiegenden Zahl der (in der deutschen Ausgabe) 334'000 Artikel zu einem überraschend hohen Mass an Sachlichkeit, Konsistenz und Korrektheit führt. Dieser Ansicht ist auch niemand Geringerer als das Vandalen-Opfer selbst, Bertrand Meyer. In seinem im Web veröffentlichten Artikel „Defense and Illustration of Wikipedia“ (1) spricht er von einer „überwältigenden Evidenz“: Wikipedia sei für alle, die das Web routinemässig zum Schreiben, Auffinden von Fakten, zum Forschen oder für andere intellektuelle Zwecke nutzen, „je länger je mehr die geeignete Quelle zur Information“. Und dies nicht zuletzt dank des gemeinschaftlichen Verfahrens der Qualitätssicherung, das von Kritikern in Zweifel gezogen wird.
„Die Masse macht’s“ titelte denn auch Stefan Betschon in der NZZ kürzlich in seiner Würdigung des fünften Geburtstags der Online-Enzyklopädie – nicht ohne dem Unternehmen grundsätzlich die Fähigkeit abzusprechen, als Referenzwerk Wissbegierigen die nötige Orientierung zu bieten. (2) „Die Wikipedia ist ein Work in Progress, Fehler werden rasch beseitigt. Aber es kommen auch laufend neue dazu“, schreibt der NZZ-Autor. Gerade bei hoch umstrittenen Themen wie dem Klimawandel würden sich „ideologische Abgründe“ öffnen, wo sich Vertreter der gegnerischen Lager erbitterte „Edit Wars“ liefern, in denen die Änderungen der Gegenseite möglichst rasch wieder gelöscht werden – bis zur Erschöpfung der einen Partei. „Bei diesen Themen muss die Wikipedia-Gemeinschaft Lösungen finden“, meint Bertrand Meyer, doch „wer würde zur definitiven Klärung solcher Fragen ernsthaft eine Website konsultieren?“ Aus eigener Beobachtung fügt der ETH-Computerwissenschaftler hinzu, dass taktlose, unehrliche oder zu enthusiastische Autoren mit der Zeit durch andere „zivilisiert“ würden. Mehr Qualitätskontrolle nötigAn thematischer Breite und internationaler Perspektive gebe es keine Informationsquelle mehr, die es mit Wikipedia aufnehmen könne, findet Bertrand Meyer. Und just dem Einfallstor für Störmanöver, der universalen Editierbarkeit der Einträge, gewinnt er auch viel Positives ab. Wer dazu tendiert, Fehler auszumerzen (und der ETH-Professor bekennt sich dazu), für den sei diese Korrekturmöglichkeit ein Segen: „Ich kann ja die Druckfehler einer normalen Webseite nicht korrigieren.“ Trotzdem müssten die qualitativen Vorbehalte ernst genommen werden (3) . Um hier Fortschritte zu erzielen, sei ein Bewertungssystem für Autoren wie Einträge anzustreben, empfiehlt Meyer. Jenen, die sich nun fragen, ob die Episode von Ende Dezember seine Ansichten über Wikipedia verändert haben, gibt Bertrand Meyer eine klare Antwort: „Nein.“ Das System sei einer seiner Schwächen erlegen, habe sich aber schnell selbst repariert. „Der Gesamteindruck ändert sich für mich dadurch nicht.“
Footnotes:
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