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Rubrik: Interview der Woche |
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Interview mit dem ICANN-Kritiker Marc Holitscher Der Internet-Aktivist |
Der 29-jährige Politikwissenschaftler Marc Holitscher arbeitet am Zentrum für internationale Studien der ETH Zürich. Er ist Mitorganisator der ICANN-Studienkreis- Tagung, die heute in Zürich beginnt. Gleichzeitig ist er ein scharfer Kritiker der ICANN. Im Gespräch mit ETH Life wirft er der Internet-Aufsichtsbehörde mangelndes Demokratieverständnis vor. Von Jakob Lindenmeyer und Richard Brogle Kasten Sie sind ein scharfer Kritiker der ICANN (siehe ). Letzten Sommer haben Wahlen stattgefunden. Warum haben Sie nicht für einen ICANN-Direktorenposten kandidiert? Einen solchen Posten zu übernehmen, hätte ich mir schlichtweg nicht leisten können. Um die Arbeit richtig auszuführen, müsste ich etwa meine halbe Arbeitskraft dafür einsetzten. Da die ICANN die Direktoren finanziell kaum unterstützt, kann man den Posten nur annehmen, wenn man von irgendwoher finanziert wird. Jetzt dürfen Sie dreimal raten, wer folglich für einen solchen Posten am ehesten in Frage kommt: in erster Linie Personen mit grossen Privatunternehmen im Rücken und viel Handlungsspielraum, was ihren Terminkalender angeht
Im Gegensatz zu Ihnen ist der "Hacker" Andy Müller-Maguhn zur Wahl angetreten und prompt zum europäischen ICANN-Direktor gewählt worden. Was halten Sie von ihm? Andy Müller-Maguhn ist ein sehr publizitätswirksamer Mensch. Bis jetzt hat er aber noch gar nichts erreicht. Ich nehme an, er ist total überlastet. Er ist gleichzeitig Informatikstudent in Berlin, Sprecher des Chaos Computer Clubs, ICANN-Direktor und hat verschiedene andere Projekte am Laufen. Müller-Maguhn ist ein "Techie". Er hat zuwenig Verständnis für sozialpolitische Zusammenhänge. Die sind nicht auf seinem Radar. Er müsste sich mehr Zeit nehmen für sein Mandat. Ich habe den Eindruck, alles ist ihm ziemlich egal. Ganz nach dem Motto des Schlusssatzes in seiner "Regierungserklärung": "Macht doch was ihr wollt, denn das tu ich nämlich auch." Als gewählter Vertreter sollte man nicht so handeln. Was halten von seiner Regierungserklärung? Die Regierungserklärung von Andy Müller-Maguhn ist ein Schnellschuss. Viel Luft um nichts. Es ist meiner Ansicht nach ungeschickt, wenn man - wie er - gleich mit der Garagentür ins Haus fällt. Statt konstruktiv mitzuarbeiten und die ICANN umzustrukturieren, stösst er mit seinen abschätzigen Bemerkungen über "Krawattis" und seiner Kritik an amerikanischen Schulen viele vor den Kopf.
Die ICANN erinnert Sie an diktatorische Verhältnisse. Warum? Ein Beispiel: Vier der 18 ICANN-Direktoren haben sich die eigenen Mandate selbst verlängert - das kennt man sonst nur von Diktatoren und Königen. Bis heute sitzen im ICANN-Direktorium vier Mitglieder, die im November 1998 in einer Nacht- und Nebelaktion in ihre Posten gehievt wurden. Von wem, warum, wieso, das weiss niemand so genau. Das ist unter demokratischen Gesichtspunkten natürlich eine absolute Katastrophe! In der Internet-Community regt sich massiver Widerstand gegen diese vier Board-Squatters. Übersetzen könnte man dieses Wort vielleicht mit "Sesselkleber", aber ganz richtig ist der Ausdruck nicht, denn Sesselkleber haben mindestens einmal die Position auf redliche Art erlangt, was hier nicht der Fall ist. Weiter: Rechts oben
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Ist die ICANN heute demokratischer als bei ihrer Gründung? Die ICANN hat sich verbessert. Früher haben die Direktoren hinter verschlossenen Türen getagt. Heute sind die Sitzungen der Direktoren öffentlich. Allerdings hält sich die ICANN nicht immer an ihre eigenen Transparenz-Regeln. Undurchsichtig ist beispielsweise, wie das Komitee zur Koordination der Studie über die Beteiligung der Internet-Nutzer zustande gekommen ist, oder wie das Nominierungsverfahren für die Direktoriumskandidaten abgelaufen ist. Da liegt noch vieles im Dunkeln. Ist die ICANN in den Händen von Wirtschaftskonzernen? Ursprünglich sollte das Direktorium paritätisch aus Internet-Nutzern und Wirtschaftsvertretern zusammengesetzt werden. Das ist heute aber nicht der Fall. Die ICANN läuft effektiv Gefahr, zu einem Spielball der grossen Computer- und Telekommunikationsfirmen zu verkommen. Die zentrale Adressverwaltung als Herzstück des Intenets ist nach wie vor in den Händen der amerikanischen Regierung. Ohne sie können sich die einzelnen Computer nicht finden. Befürchten Sie, dass die Bush-Administration eines Tages den Stecker ziehen könnte? In einem Memorandum der ICANN und des US-Handelsministerium ist festgelegt, dass die US-Behörde eine "Dormant Authority" über den Zentralrechner hat. Jede Änderung am Zentralserver muss vom US-Handelsministerium abgesegnet werden. Die amerikanische Regierung hat also immer noch das letzte Wort. Ich glaube zwar nicht, dass die Regierung der USA effektiv den Stecker ziehen wird, aber es ist mit einer verstärkten Einflussnahme zu rechnen. Ob man will oder nicht: Die ICANN ist ein amerikanisches Baby. Zur Zeit wird das Internet zentral verwaltet. Wäre es wünschbar, eine technische Lösung zu suchen, um die Adressen ohne Zentralinstanz verwalten zu können? Eine dezentrale Adressverwaltung ist technisch möglich und wäre bei gleicher Stabilität aus demokratischer Sicht sicher wünschbar. Allerdings gibt es starke Markenschutz-Lobbys, die alles unternehmen, um dies zu verhindern. Doch bei aller Kritik: ICANN bietet eine einzigartige Bühne, um mit neuen Formen der Zusammenarbeit zwischen Zivilgesellschaft, Privatsektor und Regierungen im globalen Massstab zu experimentieren. So gesehen wäre es ein grosser Verlust, wenn das ICANN-Experiment scheitern würde - nicht nur für die kommerziellen Interessen, sondern auch für den einzelnen Internetnutzer.
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