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Rubrik: Mittwochs-Kolumnen
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Publiziert: 26.10.2005 06:00

Nachdenken über New Orleans

Von Kurt R. Spillmann

Strategisch denken heisst langfristig und grundsätzlich denken, das Ganze im Blick behalten. Die Katastrophe von New Orleans war klar vorausgesagt, schon 2001 von Mark Fischetti im Scientific American im Detail beschrieben worden. 2002 waren 30 Seiten der New Orleans Times-Picayune der Darstellung wahrscheinlicher Auswirkungen eines Hurrikans der Stärke 5 auf die Stadt New Orleans gewidmet. Pläne zur Sanierung der Dämme lagen vor, Budgetanträge waren gestellt, zum Teil bewilligt, zum Teil abgelehnt, zum Teil nachträglich gekürzt worden. Wo wurden die Weichen falsch gestellt und wieso entscheidende Massnahmen nicht realisiert, die katastrophale Auswirkungen des Hurrikans Katrina hätten verhindern, ihnen vorbeugen oder wenigstens effiziente Rettungsmassnahmen nach Eintritt der Katastrophe möglich machen können?

Ein erster Punkt: Unter der Wirkung des Schocks von 9/11 war die Entscheidung der politischen Führung, alle Kräfte auf den Kampf gegen die Terroristen zu konzentrieren, zunächst begreiflich. Osama bin Laden und seine Al Kaida waren zwar nicht genau fassbar, doch sie konnten als „das Böse“ identifiziert, lokalisiert und in Afghanistan militärisch bekämpft werden. Damit wurde das Gefühl aktiver Gegenwehr erzeugt, das Gefühl der Ratlosigkeit und Passivität vermieden. Die latenten Gefahren einer schleichenden menschengemachten Klimadestabilisierung hingegen, vor denen Klimaforscher schon seit langem warnen, wurden zurückgestuft. Sie passten nicht ins Konzept einer Weltschau, die in der Natur vor allem den Raum für die freie Entfaltung des Menschen gemäss seinen Bedürfnissen sieht. In diesem Weltbild muss der Staat schwach gehalten werden, da er mit seinen sozialen Netzen in erster Linie als Bedrohung der individuellen Freiheit gesehen wird. Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Rücksichtnahme auf andere, gar auf die Natur selbst und auf die Respektierung ihrer Systemgrenzen, war angesichts der scheinbaren Unerschöpflichkeit der Natur schwer vorstellbar. Katrina hat diese Prioritätenordnung durcheinander gerüttelt. Jetzt müssen ökologische Systemzusammenhänge und soziale Verantwortlichkeiten des Staates neu gewichtet werden.

Ein zweites: Die Gefährlichkeit der Menschen für die Menschen wurde unterschätzt. Die Berichte über die Zustände unter den in aller Eile Evakuierten im Superdome von New Orleans entsprachen teilweise Berichten aus einem Kriegsgebiet. Hemmungsloser Egoismus und Zerfall der sozialen Rücksichtnahme setzten sich sofort nach dem Zusammenbruch der gewohnten Netzwerke durch. Der dünne Kultur-Firnis, der das menschliche Verhalten "zivil" macht, bröckelte ab. Was auch heute noch den korrekten Tiefblick von Immanuel Kant in Erinnerung ruft, der 1795 in seiner Abhandlung "Vom ewigen Frieden" festhielt: Der Naturzustand unter den Menschen ist der Krieg, und "Frieden muss gestiftet werden". Frieden und Zusammenarbeit sind keine Selbstverständlichkeiten, sondern das Produkt mühsamer und nachhaltiger Kulturarbeit. Gesellschaftliche Ordnung muss sorgfältig gepflegt werden. Wie viel Aufwand es braucht, nur schon den ganz gewöhnlichen Alltagsfrieden unter Menschen zu erhalten, ist offensichtlich unterschätzt worden. Die Netzwerke der Zivilisation dauerhaft, katastrophen- und sogar kriegsresistent zu machen, erfordert offensichtlich weit mehr Investitionen als bisher bewusst war.


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Kurt R. Spillmann, emeritierter ETH-Professor für Sicherheitspolitik und Konfliktforschung.

Und ein drittes: Wir wissen um die Gefahr der Selbstzerstörung, die sich als Drohung über unseren Köpfen und den Köpfen unserer direkten Nachkommen zusammenballt. Gegen die nukleare Bedrohung versucht sich die politische Welt seit langem zu organisieren. Doch dass unser nachlässiger Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen zu einer Lebensbedrohung geworden ist, wird verdrängt. Wir wollen es nicht wissen! Wir gehen unseren Anliegen nach, als ob es dieses Menetekel von New Orleans (und andere vor ihm) nicht gegeben hätte. Auch im Zeitalter der Globalisierung hat sich noch kein globales Interesse an der gemeinsamen Erhaltung der Lebensgrundlagen auf unserem Planeten gebildet. Es scheint eine Überforderung der menschlichen Natur zu sein, von ihr zu verlangen, die kleinen Eigeninteressen einer weltweiten Überlebensstrategie unterzuordnen. Die Welt braucht heute dringender denn je Persönlichkeiten mit strategischer Perspektive, die diese Probleme bewusst machen.

Hätten vielleicht die Hochschulen der Welt eine Chance, sich mit all ihren geistigen Kräften weltweit als Aktionsgemeinschaft zu organisieren, um gemeinsam – weltweit und gleichzeitig – einen Alarm auszulösen, der so laut wäre, dass er überall gehört und ernst genommen würde und die Politiker dazu bringen könnte, endlich strategisch zu denken und zu handeln?


Zum Autor

Kurt R. Spillmann hat in der Schweiz die Analyse von Konflikten und deren Ursachen geprägt wie keiner vor ihm: als Professor, Autor und Experte in der Öffentlichkeit. 1986 zum ETH-Ordinarius für Sicherheitspolitik und Konfliktforschung an die ETH berufen, gründete und leitete er die Forschungsstelle für Sicherheitspolitik und Konfliktanalyse (FSK). Er initiierte zudem die Schaffung des Center for Comparative and International Studies (CIS), eines Clusters von heute zehn Professuren, der die entsprechenden Kompetenzen von ETH und Universität bündelt. Lange Jahre war er, der im Militär den Rang eines Obersten bekleidete, Vorsteher der Abteilung für Militärwissenschaften. Daneben hat Spillmann Wichtiges als Berater geleistet: So hat er seinen nicht unwesentlichen Teil dazu beigetragen, dass die Schweizer Sicherheitspolitik sich in den neunziger Jahren modernisierte und öffnete. Seit seiner Emeritierung im Jahr 2002 hat er nun mehr Zeit, seinen besonderen Interessen zu nachzugehen: Den psychologischen und gesellschaftlichen Hintergründen von Krieg und Frieden zum Beispiel, den interdisziplinären Zusammenhängen zwischen Ökologie und politischen Konflikten – insbesondere Wasserkonflikten –, und der Nachwuchsförderung.






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