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ETH - Eidgenoessische Technische Hochschule Zuerich - Swiss Federal Institute of Technology Zurich
Rubrik: Mittwochs-Kolumnen
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Publiziert: 20.03.2002 06:00

Wissenschaft als kulturelle Praxis

Anlässlich des Beginns der spanischen EU-Präsidentschaft forderte Rolf Tarrach, Präsident des spanischen Forschungsförderungsrates, Mitglied des European Research Advisory Body (EURAB) und Professor für theoretische Physik an der Universität Barcelona, ein wissenschaftlich offenenes, kultiviertes und den Frauen gegenüber faireres Europa. Um diese Ziele realisieren zu können, müsse die europäische Forschung stärker integriert werden. Junge Forscher und Forscherinnen sollten vermehrt ihre Studien auch ausserhalb des eigenes Landes absolvieren können, akademische Qualifikationen seien zu europäisieren.

Zügig solle unter den Auspizien der European Science Foundation eine europäische Forschungsagentur, vorwiegend zur Förderung der Grundlagenforschung eingerichtet werden. Neben den Naturwissenschaften dürften die Humanwissenschaften ebenfalls nicht vernachlässigt werden. Die Mitgliedstaaten der EU sollten sich vermehrt als Bestandteil eines integrierten Europas sehen. Die vorhandene Vielfalt Europas garantiere, dass es für jede wissenschaftliche Aufgabenstellung Forschungsgruppen gebe, die dafür bestens geeignet seien auch dann, wenn dies bedeute, einen Teil der bisherigen nationalen Souveränität in der Forschung zurück zu stellen.

Bemerkenswert an Tarrachs Aussagen ist die Rolle, die er den Wissenschaften im Prozess der europäischen Integration zuschreibt. Demnach bräuchte es eine Forschung, die selbst europäisch geprägt ist und nicht durch sektorielles und nationalstaatliches Denken eingeengt wird.


Zur Person

"Tolle Arbeitsbedingungen und eine internationale Atmosphäre, die in Europa ihresgleichen sucht", umschreibt Helga Nowotny die Trümpfe der ETH. Seit 1995 ist sie, die in Wien Jura und an der Columbia University Soziologie studierte und später an der Wiener Uni das Institut für Wissenschaftstheorie leitete, Professorin für Wissenschaftsforschung und -philosophie an der ETH. Und seit 1998 führt sie als Nachfolgerin von Adolf Muschg das Collegium Helveticum in der Sternwarte, den schweizweit einmaligen Think Tank, der die Forschung sich selbst zum Thema werden lässt. "Die Forschung muss raus aus den Labors, wenn sie sich von der Gesellschaft nicht entfremden will", lautet eine ihrer Kardinalbotschaften. Ihre Mitbegründung der Stiftung "Science et Cité" ist sichtbares Zeichen dafür. Eine weitere ihrer Botschaften: "Wissenschaft muss sich politisch einmischen". Auch dafür liefert Helga Nowotny gleich selbst das Beispiel: Im September 2001 wurde sie in den Rat der Weisen des EU-Forschungskommissars Philippe Busquin berufen.




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helga nowotny
Helga Nowotny, Professorin für Wissenschaftsforschung an der ETH und Leiterin des Collegium Helveticum. gross

Dahinter steht die Vision eines wissenschaftlich offenen Europas - gewissermassen eine high-tech Version des humanistischen Bildungsideals der mittelalterlichen europäischen Gelehrtenrepublik. Während die forschungspolitischen Ziele eines europäischen Forschungsraumes mit grosser Aufmerksamkeit verfolgt werden - wenngleich dessen Umsetzung noch mit vielen Widerständen rechnen muss - sind Tarrachs beiden anderen Zielvorgaben auf den ersten Blick überraschend. Was hat ein kultiviertes Europa oder eines, das seine weibliche Bevölkerung mit grösserer Fairness behandelt, mit Wissenschaft zu tun?

Im Jahr 1935 ortete der holländische Kulturhistoriker Johan Huizinga ein Auseinanderdriften zwischen Kultur und dem Fortschritt der Wissenschaft seiner Zeit. Er diagnostizierte: "Die Summe aller Wissenschaft ist in uns noch nicht Kultur geworden".

Ich interpretiere diese Aussage folgendermassen: Ein kultiviertes Europa, muss das, was uns Wissenschaft und Technik heute zu bieten haben, zum integralen Bestandteil unserer Kultur machen. Wissenschaftlich-technisches Tun ist eine kulturelle Praxis und als solche anzuerkennen. Ein kultiviertes Europa ist eines, das pflegt. Es widmet sich vermehrt der Pflege seines Bildungsystems und der dadurch vermittelten Werte. Es pflegt wissenschaftliche Exzellenz an vielen Orten - und nicht nur an einigen wenigen. Es betreibt eben diese wissenschaftliche Exzellenz nicht unter Ausschluss oder auf Kosten anderer Bereiche sondern versucht die überschüssige Kreativität und gesellschaftliche Energie zu integrieren. Es anerkennt, dass Vielfalt - auch in den Wissenschaften - wertvolle kulturelle Ressourcen mobilisiert. Und es begreift, was Frauen zu dieser Vielfalt und zur Integration zusätzlicher kultureller Blickwinkel beitragen können.

Wann endlich wird uns die Summe aller Wissenschaft zur Kultur werden?




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