ETH Life - wissen was laeuft

Die tägliche Web-Zeitung der ETH Zürich - in English

ETH Life - wissen was laeuft ETH Life - wissen was laeuft
ETH Life - wissen was laeuft
Home

ETH - Eidgenoessische Technische Hochschule Zuerich - Swiss Federal Institute of Technology Zurich
Rubrik: Tagesberichte
Print-Version Drucken
Publiziert: 11.09.2002 06:00

Der 11. September - ein Jahr danach
"Gezielt Schwächen ausgenutzt"

Wer sie gesehen hat, vergisst die Bilder nie: Die brennenden und in sich zusammenbrechenden Zwillingstürme des World Trade Center versetzten der Welt einen bis dahin kaum vorstellbaren Schock. Seither steht der Kampf gegen den internationalen Terrorismus zuoberst auf der von den USA bestimmten internationalen Agenda. Wie veränderte der 11. September die sicherheitspolitische Landkarte der Welt? ETH Life befragte Andreas Wenger, ETH-Assistenzprofessor für Sicherheitspolitik.

Von Norbert Staub

„Die Welt wird nie mehr dieselbe sein wie vor dem 11. September“ – so hiess es in vielen Kommentaren schon kurz nach den Terroranschlägen in NewYork und Washington. Herr Wenger, welche Gültigkeit hat diese Aussage heute, ein Jahr danach?

Andreas Wenger: In der Tat markiert der 11. September das Ende der Übergangszeit nach dem Kalten Krieg. Aber aus der Distanz betrachtet scheinen die Anschläge doch eher internationale Schlüsseltrends zu bestätigen. Zum einen den Trend zur Globalisierung, unter anderem mit der Folge, dass wirtschaftliches Gefälle entsteht. Dieses wiederum erzeugt Ressentiments gegenüber den dominierenden westlichen Kräften. Zweitens machten die Anschläge deutlich, dass das Phänomen Terrorismus dort gedeiht, wo – wie in Afghanistan – staatliche Institutionen zerfallen sind. Der dritte Trend ist die zunehmende Lücke in der technisch-militärischen Entwicklung zwischen den USA und dem Rest der Welt. Der Kaida-Terror kann als eine Antwort auf diese Asymmetrie gesehen werden.

Andreas Wenger, ETH-Assistenzprofessor für Schweizerische und Internationale Sicherheitspolitik.

Eine Folge des 11. September ist, dass Afghanistan neue staatliche Strukturen, eine neue Führung und hoffentlich eine stabile Zukunft hat. Doch der mutmassliche Drahtzieher der Anschläge, Osama bin Laden, ist nach wie vor auf freiem Fuss. Sind die USA – diesbezüglich jedenfalls – gescheitert?

Die erste Phase der Afghanistan-Intervention hat zu einem unerwartet schnellen Erfolg geführt: das Taliban-Regime war bald am Ende. Aber die letzten Monate haben gezeigt, dass das Netzwerk von Al Kaida nicht zerschlagen und Bin Laden kaum zu erreichen ist, da er über grosse Mittel verfügt, äusserst gut vernetzt und enorm mobil ist. Ein weiterer Aspekt ist, dass er bei seinen Sympathisanten längst Märtyrerstatus erreicht hat. Immerhin lässt die Tatsache, dass es seit einem Jahr keine vergleichbaren Anschläge mehr gegeben hat, darauf schliessen, dass die internationale Aufmerksamkeit die Handlungsfreiheit des Terror-Netzwerks eingeschränkt hat.


Kaltblütig geplant und ausgeführt
Heute ist es ein Jahr her, seit islamische Extremisten gleichzeitig vier amerikanische Passagierflugzeuge entführten. Zwei Maschinen liessen die Terroristen kurz hintereinander an den Zwillingstürmen des World Trade Centers in New York zerschellen. Die Gebäude brachen zusammen, über 3'000 Menschen starben. Eines der Flugzeuge lenkten die Entführer ins US-Verteidigungsministerium in Washinton. Das vierte hätte wohl das Weisse Haus treffen sollen, stürzte aber im Bundesstaat Pennsylvania ab. Sehr bald fiel der Verdacht auf den saudischen Radikalislamisten Osama bin Laden, der sich unter dem Schutz der Taliban in Afghanistan aufgehalten haben soll.



weitermehr

Unauslöschlich ins Gedächtnis eingeprägt: die Terrorattacke auf das World Trade Center vom 11. September 2001. gross

Der von Präsident Bush ausgerufene „War against Terrorism“ scheint mit einem möglichen baldigen Schlag gegen Irak einem neuen Höhepunkt zuzusteuern. Ist das auf dem Hintergrund des 11. Septembers nur konsequent oder ist es ein Fehler?

Es ist meines Erachtens jedenfalls sehr riskant. Eine Militäraktion gegen Saddam Hussein gäbe den Ressentiments in der arabischen Welt gegen die USA und den Westen neue Nahrung, und die politischen Rückwirkungen wären nicht absehbar. Zudem ist bei den möglichen Koalitionären derzeit kein Konsens über einen solchen Einsatz da. Dieser wäre für ein Eingreifen entscheidend. Man müsste sich ausserdem der Risiken einer Intervention bewusst werden sowie eine tragfähige politische Lösung nach einem allfälligen Sturz von Saddam Hussein bieten können. Da sind noch viele Fragen offen. Zu hoffen ist, dass die USA auf den Alleingang verzichten.

Welche Auswirkungen hatte der 11. September auf die Schweiz?

Unsere aktuelle Studie „Sicherheit 2002“ (1) hat ergeben, dass das Sicherheitsgefühl der Schweizerinnen und Schweizer durch den 11. September, aber auch durch andere Ereignisse wie den Zuger Amoklauf oder die Brandkatastrophe im Gotthard-Tunnel, nicht nachhaltig erschüttert wurde. Als viel einschneidender würde zum Beispiel eine grosse Wirtschaftskrise mit entsprechender Massenarbeitslosigkeit empfunden. Anders als in den USA wird hierzulande der Terrorismus nicht als verteidigungspolitisches, sondern eher als Kriminalitätsproblem angesehen. Chancen, ihn zu bekämpfen, sieht man denn auch eher in der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Stabilisierung und Prävention. Aus dem angelsächsischen Raum kam nach den Anschlägen der Vorwurf, die Terroristen könnten die Schweiz zu leicht als Drehscheibe für ihre Aktionen benutzen. Unsere Regierung hat daraufhin klar gemacht, dass sie gewillt ist, im Kampf gegen den Terror zu kooperieren – aber nur unter Einhaltung der Gesetze.

Es gibt Kritiker, die sagen, dass der 11. September in manchen westlichen Staaten zum Vorwand zur Aufweichung des Datenschutzes und zur Beschneidung von Freiheits- und Menschenrechten genommen wurde. Ist mehr Sicherheit nur mit Abstrichen bei den Freiheitsrechten zu haben?

Entscheidend ist, die heikle Balance zwischen Sicherheit und Freiheit zu wahren. Wir leben in einer offenen Gesellschaft. Da kann es keine absolute Sicherheit geben. Wenn jedoch Massnahmen wie verstärkte Überwachung oder Registrierung von Personendaten beschlossen werden, darf das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden. Mich erstaunt, wie in den USA, die immer viel auf ihre Freiheitstradition gegeben haben, plötzlich massive Einschränkungen in Kauf genommen wurden: so wurden die Kompetenzen der Sicherheitsdienste, Telefone abzuhören und Personen zu überwachen, stark erweitert, ebenso die Zusammenarbeit zwischen FBI und CIA, dem In- und Auslandsgeheimdienst, und es gab spürbare Einschränkungen bei der Meinungs- und Pressefreiheit.

Hat die Auseinandersetzung mit dem 11. September der Sicherheitspolitik und Konfliktforschung eine neue Ausrichtung gegeben?

Nicht prinzipiell. Aber das Interesse an Terrorismusforschung ist stark gestiegen. So hat die EU grosse Forschungsprogramme bewilligt. Weiter werden jetzt die Grundannahmen bei Risikoanalysen überdacht: Zu den herkömmlichen Szenarien tritt neu die Gewissheit hinzu, dass Terroristen vermehrt gezielt die Schwächen von Systemen suchen und treffen wollen. Im übrigen sehen wir uns in unserer Forschungsagenda bestätigt: seit zehn Jahren ist zu beobachten, dass die sicherheitspolitische Lage komplexer wird. Um Gefährdungen wie den Terrorismus zu entschärfen, braucht es militärische Mittel; diese machen aber nur fünf bis zehn Prozent aus. Über 90 Prozent sind unspektakuläre Massnahmen: etwa verbesserte polizeiliche Kooperation und eine übergreifende Migrations- und Friedenspolitik. Ziel muss sein, die Ressentiments gegenüber dem Westen abzubauen.


Literaturhinweise:
Den Volltext der Studie "Sicherheit 2002" finden Sie unter: www.fsk.ethz.ch/documents/Sicherheit/si02/02_con.htm

Fussnoten:
(1) Andreas Wenger, Karl W. Haltiner et al.: „Sicherheit 2002“. Aussen- Sicherheits- und Verteidigungspolitische Meinungsbildung im Trend. Eine Studie der ETH-Forschungsstelle für Sicherheits-und Konfliktanalyse und der Militärakademie an der ETH Zürich auf der Basis einer repräsentativen Umfrage in der Schweiz vom Februar 2002.



Sie können zu diesem Artikel ein Feedback schreiben oder die bisherigen lesen.




!!! Dieses Dokument stammt aus dem ETH Web-Archiv und wird nicht mehr gepflegt !!!
!!! This document is stored in the ETH Web archive and is no longer maintained !!!